Die Artists
Die Kölner Retrogott (a.k.a. Kurt Hussle) und Hulk Hodn (bis 2013 nannte sich das Duo Huss und Hodn) sind Veteranen innerhalb der deutschen Underground-Rap-Szene. Bekannt war das Duo vor allem für sehr stringenten Battlerap mit scheppernden Old-School-Sample-Boom-Bap-Beats. Auch war Retrogott für eine sehr krasse Punchlineattitüde bekannt, inklusive heftigster Homophobie und Sexismus.
Retrogott distanziert sich mittlerweile völlig von seinen eigenen Texten und bereits auf den vorangegangen Alben zeigte sich die Hinwendung zu einer sehr dichten, wortspielverliebten Fülle an Gesellschaftskritik, Anspielungen und Battleraplines, die allerdings nun völlig ohne Abwertung von Menschengruppen auskommen. Auch live bedient Retrogott die umstritten Textzeilen nicht mehr und in entwaffnender Ehrlichkeit, Reue und Selbstreflexion hat er dieses Kapitel seiner Texte abgeschlossen
In eigenen Worten Kurt Tallerts (so Retrogott bürgerlich), rückbetrachtet (2018, im Zuge der Diskussion was Battleraptexte dürfen im Zuge der Echoverleihung für die Rapper Farid Bang und Kollegah, die Punchlines auf Kosten von Opfern der Shoa machten) klingt dieser Reflexionprozess so:
Rap ist fähig zu Selbstkritik und voll davon. Ich selbst habe etwas Zeit gebraucht, um eine ähnliche ästhetizistische Argumentation [gemeint sind hier reflexhafte Verteidigungen von menschenfeindlichen Texten mit der Kunstfreiheit] fallen zu lassen und meine eigenen einstigen homophoben Textpassagen nicht mehr zu verteidigen. Der Verzicht auf Diskriminierung andersdenkender, -liebender oder -glaubender [sic!] ist keine Zensur, sondern moralisches Handeln, zu dem auch die Kunst Übergänge hat.¹
Retrogott, der selbst teils jüdische Wurzeln hat, scheint schon länger die gesellschaftliche Entwicklung zu beobachten und auf welche Art diese sich im Rap widerspiegeln. Seine eloquenten Kommentare und die Neuausrichtung seiner Texte sprechen hierbei eine deutliche, praktische Handhabung.
Geblieben sind die starken Beats von Hulk Hodn (und teils Retrogott selbst) mit vielen Cuts, Samples. Besonders alte Funk- und Jazzplatten finden hier Verwendung, während die Drumpatterns ruhigen Gewissens als brachial aber schlicht bezeichnet werden können. Insgesamt verströmen die Beats einem sehr intensiven Charme von Hip-Hop aus den 80er und 90er Jahren.
Das Album
Das neue Album des Duos „Land und Leute“ erschien am 24. Januar diesen Jahres und ist mittlerweile das neunte Release (inklusive EPs) von Retrogott und Hulk Hodn.
Ist das Leitmotiv des Albums dabei die „deutsche Leitkultur“? Das wäre vielleicht etwas vereinfacht gesprochen, aber in Land und Leute geht es um Deutschland mit seinen Menschen. Deutschland mit seinen Menschen migrantischen Ursprungs, Deutschland mit seinen Menschen, die Menschen mit Migrationshintergrund nicht als Deutsche sehen wollen, Deutschland in Zeiten von rechtem Terror gegegenüber Muslim*Innen und Jüd*Innen und anderen Menschen, die nicht dem rechts-konsvervativen Bild von „Deutschsein“ entsprechen. Deutschland in einer widersprüchlichen Rolle der Dominanz innerhalb der EU, bei gleichsam tradierten Geschichtsbewusstsein. Die Widersprüche dabei werden von Retrogott mal direkt, mal verspielt aufgezeigt und auch sonst erweist sich der MC als spitzer Beobachter unseres Landes.
Insgesamt reicht auf interpretativer Ebene ein solcher Artikel nicht aus, die Fülle an Anspielungen, Wortkonstruktionen und so weiter, detailliert wiederzugeben. Kurz: Retrogott liefert Anstöße für ein friedliches multikulturelles Miteinander und für ein Deutschland, das für alle Menschen ein gutes Leben bieten kann, ohne dass er dabei ausspart wie sehr diese Idee aktuell bedroht ist oder gar Vision bleibt.
Das alles geschieht auf Beats, welche die Szene gern als Bretter, dope, fresh und so weiter betitelt. Neutraler gesprochen brilliert vor allem Hulk Hodn mit kräftigen, pointierten Beats aus Klavier-, Bläser-Samples mit verzweigten Basslinien und einer Snaredrum, die Geländer für die Zeilen bietet. Beats, die in Zeiten von Trap, einen bewusst gepflegten Gegenpol bieten, der auch nach wie vor mit einer zur Schau getragenen Untergrundhaltung der Künstler korreliert.
Technisch erfüllt Retrogott deutlich das Sprechen im Terminus Sprechgesang. Auf Doubletimepassagen, komplizierte Reimketten und so weiter verzichtet er bewusst. Die Reime sind meist schlicht und einfach gehalten und werden mitunter fast gelangweilt wirkend vorgetragen. Letzteres ist schon immer ein Markenzeichen Retrogotts gewesen, macht dies hier möglicherweise auch die Wichtigkeit des Inhalts gegenüber der Form deutlich.
Den Plattentipp zum Album „Land und Leute“ könnt ihr hier nachhören:
Der Song
„Der Tag Der Einen Deutschheit“ ist offensichtlich eine Anspielung auf den Feiertag der Wiedervereinigung Deutschlands. Sofort wird aber klar, dass Hulk und Retro die schleichend einhergehende Geschichtsvergessenheit, den neu aufkommenden Patriotismus und die Debatte um Leitkultur kritisieren.
Auch die Phantasien von Völkischen, Rassist*Innen, Rechtsradikalen, die von einer nationalen Revolution oder ähnlichen „Machtergreifungen“ träumen, wird in dem Begriff – der ja ein Auslöschen von Diversität impliziert – aufgegriffen. Dabei erwähnt der Text in logischer Konsequenz auch die deutsche Geschichte.
Und sie sprechen: „Endlich wieder stolz sein!“ /
Und sie reden: „Endlich wieder Volk sein!“ /
Die Ewiggestrigen proklamieren ihre Neuzeit /
am Tag – dem Tag der einen Deutschheit!
Konterkarrierend ergießt sich der Beat mit einem Sample eines orientalischen Instruments, vermutlich einer Oud, und einem englischen Wortsamples, welches titelkorrekt Einheit (wohl in einem andern Kontext) beschwört: „(About) Unitiy!“.
Insgesamt spiegelt der Song sehr gut das Leitmotiv des gesamten Albums wieder. Die Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen des modernen Deutschlands – besonders im Sinne seiner sich wandelnden Identität – war noch nie so klug, bei gleichsamer Kopfnickgarantie.
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Quelle:
1. https://www.facebook.com/117736585582737/posts/161147954574933/
Interpret: Retrogott und Hulk Hodn
Song: Der Tag Der Einen Deutschheit
Album: Land und Leute (VÖ 24.01.2020)
Label: ENTBS
Die weiteren Titel der Heavy Rotation in KW 12/2020
LOHROtation
Unsere akustische Präsentation aller fünf Titel der Heavy Rotation hört ihr hier – straight outta coronabedingtem-Home-Office: